Montag, 30. Mai 2011

Kein Geben und Kein Nehmen - Ein anderer Gesellschaftsvertrag und warum er mich hier so unglücklich macht

Mit nur noch zwei verbleibenden Wochen, will ich Heute über etwas bloggen dass mich während der letzten dreieinhalb Monate andauernd beschäftigt hat. „Warum sind die Nepalis so unfreundlich??“ Ich habe viel darüber nachgedacht obwohl die Antwort natürlich sehr einfach ist: „Hier ist niemand wirklich unfreundlich. Das Verhalten ist total normal. Aber ich EMPFINDE es als unfreundlich!“
Also war die nächste Frage: „Warum empfinde ich denn das Verhalten als so unfreundlich?“ Die Antwort auf diese Frage ist nicht ganz so einfach. Natürlich gibt es auch viele Leute in Deutschland oder Amerika die mir als unfreundlich vorkommen, aber hier ist es das ganze Volk das so rüber kommt – was natürlich ein Zeichen dafür ist, dass es „an mir liegt“ und nicht an ihnen.
Basierend auf meinem sehr limitierten Psychologie, Philosophie, und Sozialkunde Wissen bin ich zu folgender subjektiven Antwort gekommen.
Zufallsbild Nummer eins: Heera malt eines der Mickey Maus Bilder aus,
die ich den Kinder ausgedruckt habe

Das Problem kommt durch die unterschiedlichen Gesellschaftsverträge. Ein Gesellschaftsvertrag ist eigentlich defininiert als ein ungeschriebener Vertrag der das Verhältnis zwischen dem Volk und der Regierung festlegt. Er kann jedoch auch den Verhaltenscodex zwischen den Individuellen Bürgern festlegen. In Europa zum Beispiel, geben wir viele Rechte auf um im Gegenzug andere Rechte zu erhalten. Wir verzichten auf unser Recht andere zu verletzten um selbst ein Recht auf unversehrtheit zu bewahren. Wir bringen andere nicht einfach um weil wir selbst ein Recht auf Leben haben wollen (ihr versteht was ich meine)
Das sind so die großen Rechte, aber wir halten uns auch jeder an tausende von kleinen Abmachungen die unseren täglichen Umgang definieren. Wenn jemand redet, hören wir zu und unterbrechen ihn nicht, wenn jemand deinen Weg kreuzt, gehst du aus dem Weg, wenn du ausversehen jemandem weh tust, entschuldigst du dich...
Wir wachsen mit diesen sozialen Regeln auf. Wir geben einige Rechte auf, denn wir erwarten dass sich andere auch an die Regeln halten und wir dafür dann auch einige Freiheiten zurück erhalten. Aber eben genau dieser Gesellschaftsvertrag ist KOMPLETT anders hier:

Zufallsbild Nummer Zwei: Ich repariere die Fahrräder zusammen mit
den Kindern


·        Man kann hier hinspucken wo man will, aber man muss eben auch akzeptieren dass andere einem vor die Füße „rotzen“ können oder sogar auf die Schuhe
·        Man kann andere schubsen, schlagen, kneifen, drücken und anrempelen ohne sich Gedanken zu machen, denn auch andere werden dich anrempelen, umschubsen und im vorbeigehen kneifen
·        Man kann seine Anrufe zu jeder Zeit entgegen nehmen, aber andere werden eben auch einfach einen Anruf mitten im Gespräch entgegenehmen
·        Du kannst andere unterbrechen so viel du willst denn auch du wirst unterbrochen werden und viele werden dir nicht zuhören
·        Du kannst so verrückt rumfahren wie du willst, aber du musst akzeptieren dass du selbst nicht vor Autos und Mopeds sicher bist die Zentimeter entfernt von dir vorbeirauschen
·        Man kann Leute anstarren und angaffen ohne sich Gedanken zu machen denn auch man selbst wir angegafft werden
·        Man muss sich nicht entschuldigen wenn man jemand auf den Fuß tritt oder wenn man jemandenen mit seiner Tasche schlägt, denn auch die anderen werden sich nicht bei dir entschuldigen wenn sie dir weh tun
·        Du hast die Freiheit zu lachen wann du willst, du kannst auch andere auslachen ohne Probleme denn auch du wirst ausgelacht werden

Zufallsbild Nummer Drei: Die Kinder haben mich in eine
Sari gekleidet, das traditionelle Kleid der Frauen
·        Man muss sich nicht um andere Gedanken machen, denn auch kein anderer macht sich Gedanken um dich
·        Man kann so viele Sitze im Bus blockieren wie man wünscht, aber man kann nicht von anderen erwarten dass sie einem Platz machen wenn man selbst einen Sitz braucht
·        Du kannst gerne laut rumschreien zu allen möglichen Zeiten, aber du musst akzeptieren dass auch andere ständig rumschreien, selbst wenn du schlafen willst
·        Man kann für andere Entscheidungen fällen, denn auch man selbst wird nicht um Meinung gefragt selbst für wichtige Dinge
·        Man kann gerne zu spät kommen, aber man kann eben auch nicht von anderen erwarten pünktlich zu sein
·        Es steht dir frei deine Arbeit nur halbherzig zu erledigen, jedoch kannst du nicht annehmen dass andere ihre Arbeit richtig ernst nehmen
·        Du kannst gerne einen ganzen Bus aufhalten weil du kurz etwas einkaufen musst, aber du darfst dich eben auch nicht beschweren wenn ein anderer den ganzen Bus aufhält weil er noch Karotten kaufen muss
·        Man kann sich ohne Bedenken an anderen festhalten, ihre Arme packen oder ihre Schultern benutzen, denn auch andere werden dich als Halterung hernehmen – ohne Erlaubnis
·        Es steht dir frei mitten auf dem Gehweg anzuhalten, andere aufzuhalten, dich urplötzlich umzudrehen ohne auf andere Rücksicht zu nehmen, denn auch andere Passanten werden sich genau vor dir umdrehen oder werden dir den Weg versperren
·        Du musst auch nicht dein Kind ermahnen wenn es anderen Leuten an den Haaren zieht oder deren Sachen durchwühlt, aber du kannst dich auch nicht beschweren wenn dir an den Haaren gezogen wird

Ich könnte noch mehr Punkte auflisten, aber ich denke die Grundidee ist klar. Ich meine wirklich was ich hier schreibe auch wenn es sich unvorstellbar anhört. Man kann hier schubsen, schlagen, blockieren, unterbrechen, auslachen, anstarren, etc. wie man will und es ist ganz normal. Niemand wird sich beschweren. Die Leute sind es gewohnt diese „Freiheiten“ zu haben und sie akzeptieren die Einschränkungen.

Zufallsbild Nummer vier: Das Polizei Aufgebot rund um das Verfassungsgebäude
am Samstag, dem Tag an dem die Frist für die neue Verfassung abgelaufen ist. 

Aber für mich ist dieser Gesellschaftsvertrag hier unfair. Ich bin es gewohnt gewisse Freiheiten aufzugeben also mache ich es auch hier: ich versuche andere Leute nicht einfach anzurempeln, sie auf der Straße zu behindern, die auszulachen, sie zu unterbrechen, etc. Aber was erhalte ich im Austausch? Nichts! Und das ist es was so unfair und unfreundlich erscheint. Natürlich ist es meine Entscheidung all diese Dinge nicht zu tun, aber ich bin es eben einfach so sehr gewohnt unseren Gesellschaftsvertrag einzuhalten dass mir der Nepalesische Vertrag so unfreundlich erscheint.
Das heißt also dass mir hier die Leute so unfreundlich und gemein vorkommen weil ich auf gewisse Dinge verzichte, aber nichts im Austausch dafür zurück erhalte. In den letzten Wochen habe ich mein Verhalten ein wenig geändert. Manchmal – wenn es sein muss – schubse ich eben auch andere, ich halte mich an ihnen fest, starre sie an oder ignoriere sie (klingt ziemlich unhöflich oder?) Aber nur so macht es den Vertrag etwas fairer und so macht es auch das schubsen, schlagen, unterbrechen, lachen, etc. der anderen erträglicher.

Zufallsbild Nummer fünf: Ein Vater bringt seine drei Kinder
"sicher" zur Schule 
Es steht wohl jeder Gemeinschaft frei ihren eigenen Gesellschaftsvertrag zu entwickeln. Ich persönlich, bevorzuge es gewisse Dinge nicht zu tun um klar zu stellen dass andere diese Dineg auch nicht machen (rumspucken, anrempeln, schlagen, blockieren, unterbrechen, etc.) Aber die Leute hier sind eben ihren Vertrag gewohnt. Keiner beschwert sich. Die Leute hier fordern auch keine Rechte für sich selbst. Und diese zwei Dinge sind auch Grund dafür dass in dem Land so wenig vorwärts geht. Jeder akzeptiert den Status Quo ohne Beschwerden.

Zufallsbild Nummer sechs: es fängt meistens mit einem Kind an, das ein Foto
machen will, und dann stürmen alle an! 

Ich freue mich schon so sehr darauf wieder in gewohnter Umgebung zu wohnen, wo alle Menschen in etwa die gleiche Vorstellung von höflichkeit und angebrachtem Umgang haben. Ich hoffe dieser Blog hat euch geholfen ein wenig besser zu verstehen warum ich hier so Probleme habe. Ich weis dass das Problm bei mir liegt und ich will auch die Nepalesen nicht verurteilen. Ihre sozialen Verienbarungen sind eben anders als die bei uns zu Hause, nur für mich ist es schwer zu akzeptieren dass andere Leute so viele Dinge „mit dir machen können“.

Ich wünsche euch einen guten Start in die neue Woche. Ich zähle die regnerischen Tage (der Monsoon ist nun hier).
Bye Bye
Annika

2 Kommentare:

  1. Hi Annika,

    wenn man dies alles gelesen hat, dann ist man doch mit den Lebensumständen in "Good-old-Germany" wieder richtig zufrieden!!!

    Pass auf dich auf und versuche, die letzten Wochen noch mit den Kindern zu "geniesen"

    Liebe Grüße

    Sigi

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  2. Hallo Annika,
    kann sehr gut nachvollziehen was Du erlebt hast. Mir geht es auch so, wenn ich in Nepal bin. Wollte dann auch nepalesische Eigenheiten übernehmen, aus den gleichen Gründen wie Du. Aber ich finde, das steht uns nicht! Auch wirkt das bei Westlern irgendwie unnatürlich/nicht "selbstverständlich" sondern vorsätzlich. Dann aber fällt man auf, und zwar sehr sehr negativ!! Und bei anderen Westlern erst recht. Denke besser ist es, seinen eigenen Stil weiter durchzuziehen, auch wenn die Gefahr bestehen sollte innerlich zu platzen. ;-)
    Dagegen kann ja dann nepal. Yoga oder Liebende Güte-Meditation helfen.

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